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Ärzte können über den grassierenden Reinlichkeitswahn der Eltern mittlerweile nur noch den Kopf schütteln. Denn es ist längst erwiesen, dass übertriebene Sauberkeit Babys und Säuglingen mehr schadet, als das sie nützt.
Das Deutsche Grüne Kreuz (DGK) vergleicht die Desinfektion im Haushalt mittlerweile sogar ganz bewusst mit dem Einsatz von Insektiziden, Pestiziden und Fungiziden in der Landwirtschaft. Desinfektionsmittel vernichten die für unser Leben nützlichen Mikroorganismen, führen zu Resistenzen bei krankheitsverursachenden Bakterien und können damit das menschliche Immunsystem schwächen. Denn erst durch wiederholten Kontakt mit Bakterien und Keimen kann dieses lernen, mit ihnen umzugehen. Entzieht man dem Immunsystem diese Möglichkeit, lernt es nicht, sich gegen die „Eindringlinge“ zur Wehr zu setzen.
Ein zusätzliches Problem, das man nicht unterschätzen sollte: Viele desinfizierende Mittel enthalten Stoffe, die dem Menschen gefährlich werden können. Der antibakterielle Wirkstoff Triclosan zum Beispiel kann über die Haut aufgenommen werden und in den Entgiftungsstoffwechsel der Leber eingreifen. Darüber hinaus kann der Stoff gegen Antibiotika resistent machen. Benzalkoniumchlorid, ein desinfizierender Zusatzstoff, gilt als allergieauslösend. Aus Natriumhypochlorid, einer Substanz, die in vielen Reinigern zu finden ist, wird Chlor freigesetzt. Der wiederum kann Haut und Schleimhäute reizen. Gerade für Kleinkinder, die die meiste Zeit auf dem Boden sitzen und gerne an allem Möglichen herumlutschen, können diese Stoffe gefährlich werden.
Immer brisanter wird darüber hinaus die Situation, wenn man weiß, dass sich Erreger schwerer Krankheiten den heutigen Desinfektions- und antibakteriellen Mitteln anpassen. Das führt aktuell vor allem in Krankenhäusern und Kliniken zu Problemen, doch die Problematik wird durch zu viel private „Putzhysterie“ verstärkt. So züchteten Forscher der Universität Galway in Irland Bakterien in einer Nährlösung, die sie schrittweise mit dem antiseptischen Wirkstoff Benzalkoniumchlorid anreicherten. Einem Wirkstoff, der sich heute in vielen Haushalts-Desinfektionsmitteln befindet. Nach 33 Tagen hatten sich die Mikroben so gut daran gewöhnt, dass sie zwölfmal so hohe Konzentrationen ertrugen wie zu Beginn des Versuchs. Nebenbei waren die Bakterien resistent gegen das Antibiotikum Ciprofloxazin geworden. Sie hielten sogar 256-mal höhere Dosen aus, als ihre nicht angepassten Artgenossen.
Im Auftrag des bayerischen Umweltministeriums wurden mittlerweile 1.200 Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass Stadtkinder 15-mal häufiger an Allergien leiden, als ihre Altersgenossen, die auf Bauernhöfen aufwachsen. Je intensiver dabei der Stallaufenthalt war, desto ausgeprägter war der Schutz vor Asthma und Allergien. Darüber hinaus ergab eine Befragung von insgesamt 2.509 Bauernfamilien und 1.001 Stadtfamilien, dass die schützende Wirkung bereits während der Schwangerschaft auf die ungeborenen Kinder übertragen wird. Wie das geschieht, ist bisher unklar. Die Kinder litten jedenfalls deutlich seltener an Asthma, Heuschnupfen und sogenannten atopischen Ekzemen. Am stärksten reduzierte sich das Erkrankungsrisiko für die Kinder, die sowohl im Mutterleib, als auch gegenwärtig eng mit dem Landleben in Berührung kamen. Zum gleichen Ergebnis kamen auch Studien aus benachbarten Ländern: Hohe Keimkonzentrationen, wie es sie im Stall gibt, scheinen besonders gut vor Allergien zu schützen. Diese Tatsache ist mittlerweile als „Bauernhof-Effekt“ bekannt.
Der englische Biowissenschaftler Matt Ridley gab dafür eine einleuchtende Erklärung: „In der Steinzeit hatte das Immunsystem reichlich zu tun: Spulwürmer, Bandwürmer, Hakenwürmer und Leberegel mussten bekämpft werden. Die Abwehrzellen hatten keine Zeit, sich um Katzenhaare oder um Milben zu kümmern. Heute langweilen sie sich oft. Und deshalb treibt das Immunsystem Unfug und fährt schwere Geschütze gegen harmlose Dinge wie Katzenhaare auf.“
Apropos Haustiere: Nicht auszurotten ist offenbar auch der Mythos, dass ein Hund nicht mehr ins Haus gehört, sobald ein Baby geboren ist. Grund: Seine Haare könnten Allergien auslösen, darüber hinaus bringt der beste Freund des Menschen ja Dreck ins Kinderzimmer. In diesem Zusammenhang kommt eine groß angelegte Studie aus München zu einem spannenden Ergebnis: Der Untersuchung zufolge haben Kinder, die mit Hunden aufwachsen, sogar ein vermindertes Risiko, an Allergien zu erkranken. Die Forscher aus der bayrischen Landeshauptstadt veröffentlichten ihre Ergebnisse im „European Respiratory Journal“. Warum aber Hunde offenbar vor Allergien schützen können, ist zur Zeit noch unklar – an den genauen Zusammenhängen arbeiten die Forscher noch.
Zurück zum „alltäglichen Dreck“. Es gibt natürlich eine Menge Dreck und Keime, die gerade kleinen Kindern sehr gefährlich werden können. Deshalb ist es nicht ratsam, seinen Zweijährigen auf einem völlig verdreckten Hinterhofspielplatz unbeobachtet zu lassen und damit Gefahr zu laufen, dass das Kind Hundekot, Katzendreck oder Ähnliches in den Mund (und Magen) bekommt. Diese Art der Verschmutzungen macht aus harmlosem Spielplatzsand oft ein gefährliches Gemisch. Auf diese Weise wird beispielsweise der Fuchsbandwurm übertragen, dessen Larven die Leber befallen. Auch an Straßenecken und an öffentlichen Mülleimern können gefährliche Keime entstehen, die nicht mit dem natürlichen Dreck auf Feld und Wiese zu vergleichen sind. Auch die Hygiene in der Küche sollte Eltern nach wie vor wichtig sein, da Bakterien wie Listerien und Salmonellen nicht nur Kindern gefährlich werden können. Das heißt, dass der Kühlschrank nicht zu niedrig eingestellt werden sollte, Hühnerfleisch und ähnliches vor dem Kochen gut abgewaschen werden und Kinder nur frisches, gewaschenes Obst und Gemüse erhalten sollten. Ansonsten gilt: Sorgen Sie für ausreichende Reinigung mit einfachen Putzmittel. Wechseln Sie häufig die Putzlappen. Reinigen Sie regelmäßig Ihren Kühlschrank, zum Beispiel mit warmem Essigwasser. Leeren und reinigen Sie regelmäßig den Abfalleimer. Und vergessen Sie das Händewaschen vor dem Essen nicht.
Der grassierende Hygienewahn schadet jedoch nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen. Am meisten übertrieben wird nach Meinung von Dermatologen bei der Körperpflege: Die menschliche Haut ist besiedelt von einem ganzen Mikroorganismus von Bakterien. Diese haben sich optimal an die Bedingungen angepasst und leben von Talg und Schweiß, den wir ständig absondern. Auf trockenen Hautpartien leben etwa 1.000 Bakterien pro Quadratzentimeter, auf feuchten leicht tausend bis zehntausend Mal mehr. Diese Keime, die sogenannte Hautflora, sind nicht nur harmlose Nutznießer, sondern schützen vielmehr vor Infektionen, indem sie mögliche Angriffspunkte für Krankheitskeime blockieren. Das sensible Gleichgewicht unserer Haut- und Schleimhautflora wird durch übertriebene Hygiene meist gestört. Mittlerweile ist es normal geworden, sich täglich zu duschen oder zu baden. Allerdings kann ein Zuviel den natürlichen Schutz der Haut beeinträchtigen. Zu häufiges Duschen, Baden und Waschen entzieht ihr dabei Fett und Feuchtigkeit. Der wichtige Säureschutzmantel der Haut und die Hautflora werden zerstört. Oft ist dies die Ursache von Hauterkrankungen. Dermatologen bestätigen, dass diese in den vergangenen Jahren zugenommen haben und führen das auch auf zu häufiges Waschen mit ungeeigneten Mitteln zurück. Bei normaler Verschmutzung reicht Duschen mit einfachem Wasser. Bei der täglichen Körperreinigung muss nicht der ganze Körper eingeseift werden. Eine gründliche Reinigung der Regionen wie Achselhöhlen, Intimbereich und Füße, wo feuchtwarmes Klima herrscht, ist in den meisten Fällen ausreichend, da sich dort besonders viele Schweißdrüsen befinden. Waschen mit Seife entfernt 90 bis 95 Prozent der oberflächlichen Mikroorganismen.
Allerdings sollte mit Seife immer sparsam umgegangen werden. Syndets, also seifenfreie Mittel zur Hautreinigung, oder milde Duschbäder gehen zudem schonender mit dem Säureschutzmantel um als Seifen.
Von Andrea Abrell