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Warum suchst Du die Öffentlichkeit?
Dass Sandra an dieser seltenen Erbkrankheit leidet, wurde zu spät diagnostiziert. Erst im Nachhinein konnte eine Beziehung zu anderen Fällen in der Familie hergestellt werden. Schon 2009 klagte sie über Schmerzen, fühlte sich müde und konnte nur schwer atmen. Zudem ist Sandra Diabetikerin. „Ich wurde nicht ernst genommen. Immer wieder wurde mir gesagt, dass ich nichts habe“, erinnert sie sich. Erst 2012 sollte sich das ändern. Ihr behandelnder Hausarzt im Centro Medico El Mojón in Arona ließ eine Röntgenaufnahme der Lunge erstellen. „Schon damals war ein Tumor sichtbar, den aber keiner erkannte. Wieder verging wertvolle Zeit“, betont sie. Erst nachdem sie, Monate später, in die Notaufnahme des Universitätskrankenhauses eingeliefert worden war, wurde bei einer erneuten Röntgenaufnahme der mittlerweile gewachsene Tumor erkannt. Im Vergleich zu dem vorherigen Röntgenbild wurde dann auch entdeckt, dass er damals schon sichtbar, aber noch sehr klein war. Der Tumor wurde offenbar schlicht übersehen. Wenig später kam auch die Diagnose Syndrom MEN 1. „Ich weiß, dass es für meine Krankheit keine Heilung gibt, aber man kann mit ihr leben. Wäre ich früher ernst genommen und intensiver untersucht worden, wäre die Grunderkrankung vielleicht schneller erkannt worden. Das hätte für mich bedeutet, dass sich vielleicht noch nicht so viele Tumore gebildet hätten und ich mehr Zeit gehabt hätte. Viele ‚wäre‘, die aber für mich von großer Bedeutung sind. Deshalb gehe ich an die Öffentlichkeit. Ich möchte allen Patienten, denen man sagt, sie hätten nichts, raten: Lasst Euch nicht abwimmeln. Auch wenn man Euch das Gefühl gibt, lästig zu sein. Besteht auf weiteren Untersuchungen. Mich hat man zum Psychologen geschickt. Die Wartezeit betrug ein Jahr. Noch bevor ich an die Reihe kam, gab es dann die niederschmetternde Diagnose im Krankenhaus. Ich fühle mich durch ärztliche Ignoranz um Lebenszeit betrogen.“ Sandra hat inzwischen beschlossen, gegen das medizinische Zentrum Anzeige zu erstatten. „Dazu müsste ich nur aus dem Krankenhaus heraus. Aber im Moment bin ich höchstens mal übers Wochenende zu Hause. Ich möchte, dass meine Kinder wenigstens eine Entschädigungszahlung erhalten“, fordert sie. Ein Anwalt, den sie vor der letzten Einweisung konsultiert hatte, wollte 7.000 Euro Vorschuss, um die Anzeige bei der Sozialversicherung anzukurbeln. Zu viel. Jetzt hofft sie auf einen Pflichtverteidiger, der sich für sie einsetzt. Unterstützt wird Sandra in ihrem Kampf gegen die Krankheit und ihre späte Diagnose von ihrem Ehemann Gregorio.
Sprichst Du mit Deinen Kindern über die Krankheit?
„Ja natürlich, zumindest mit meinen Töchtern, der Junge ist noch zu klein. Wir haben sofort Tests machen lassen, weil diese Krankheit vererbbar ist. Leider haben meine beiden Töchter die Disposition für die Krankheit geerbt, mein Sohn nicht. Die Chancen stehen 50:50. In meinem Beisein hat ein Arzt meinen beiden Töchtern die Krankheit erklärt. Oft bricht sie erst ab 60 Jahren aus und nicht so früh wie bei mir. Man kann damit relativ normal leben, wenn regelmäßige Kontrollen stattfinden. Denn vor allem ist Früherkennung wichtig, dann kann schnell reagiert und gegengesteuert werden. Im Moment sind beide glücklicherweise gesund und werden regelmäßig untersucht.“ Die Krankheit der Mutter hat auch das Zusammenleben ver- ändert. Die beiden Töchter, die aus erster Ehe stammen, leben inzwischen bei dem Vater. „Er ist ihnen ein guter Vater. Ich habe nur manchmal Angst, weil er sehr besitzergreifend ist. Ich wünsche mir, dass er ihnen die Freiheit lässt, sich zu entfalten.“ Die Krankheit der Mutter, und auch ihre eigene Disposition, hat sie früh erwachsen werden lassen. „Vor allem die Jüngere nimmt, wenn ich zu Hause bin, so viel Rücksicht und verzichtet dann auf ein Treffen mit Freunden, damit ich nicht alleine bin. Aber das möchte ich natürlich auch nicht. Die Große interessiert sich für Jungs und beginnt erwachsen zu werden. Ich wäre so gerne noch lange für sie da, würde gerne zusehen, wie aus Mädchen junge Frauen werden.“ Gregorio, ihr Ehemann und Vater des gemeinsamen Sohnes pflichtet ihr bei. „Die zwei Mädchen brauchen ihre Mutter noch. Ich lege auch Wert darauf, dass die Kinder eine Familie bleiben und regelmäßig Kontakt haben. Das ist alles nicht einfach, aber ich hoffe, wir schaffen das“, wünscht er sich.
Wie kommst Du selbst mit der Diagnose klar?
Sandra ist eine starke Frau, aber sich so früh mit dem Tod auseinandersetzen zu müssen, ist auch für sie schwer. „Zuerst war ich total wütend auf die Ärzte, die mich so lange hingehalten und mich wie eine Simulantin behandelt haben. Dann kam eine Zeit großer Traurigkeit. Drei oder vier Monate lang habe ich mit niemandem gesprochen. Mir war jedes Wort zu viel, zu sinnlos. Es kam mir vor, als würden alle nur kommen, weil sie Mitleid mit mir haben, und das wollte ich nicht. Inzwischen bin ich in einer Phase, wo ich sage, ich habe meine Krankheit akzeptiert und versuche, so viel Zeit herauszuschlagen, wie ich kann.“ Jetzt ist es ihr wichtig, in Kontakt zu bleiben und so lange wie möglich für ihre Kinder da zu sein. Das ist nicht immer einfach und sie gesteht, dass es auch Tage gibt, an denen sie sich wünscht, dass endlich alles vorbei ist. Aber noch erwacht auch immer wieder ihr Lebenswille, der sie weiterkämpfen lässt. „Wenn es dir gut geht, gibt es so vieles, was dir selbstverständlich erscheint. Aber mir ist bewusst, dass ich vermutlich bei einer Hochzeit meiner Kinder nicht dabei sein werde. Ich werde nie einen Enkel in den Armen haben und ihm Geschichten erzählen können. Das macht mich traurig. Mein Sohn kennt mich nur als kranke Mama. Meist reicht meine Stimme nicht einmal aus, um ihm Geschichten zu erzählen. Ich werde dann heiser und bekomme Schmerzen. Immer samstags kommt er mich besuchen. Ich genieße es sehr, ihm einfach zuzuschauen und zuzuhören. Er ist ein aufgewecktes Kerlchen mit Widerspruchsgeist. Es macht mir Freude, ihn zu beobachten.“
Woran denkst Du, wenn Du allein bist?
„Ich erinnere mich gerne. Ich war immer eine aktive Frau, auch in der Zeit, als ich alleinerziehend war. Zu Hause rumsitzen war nichts für mich. Arbeiten, die Kinder, der Haushalt – ich hatte einen ausgefüllten Alltag. Als die Mädchen klein waren, habe ich mir immer im August Urlaub genommen. Dann haben wir bis 9 Uhr ausgeschlafen, in Ruhe gefrühstückt, belegte Brote gemacht, einen Picknickkorb gepackt und dann ging es an den Strand. Wir waren immer total bepackt: Mit Eimerchen, Schaufel und allem, was dazugehört. Unser Lieblingsstrand war die Bucht Bahía del Duque oder die Playa Altamira. Und wenn es nicht an den Strand ging, dann vielleicht zu einer „Chuletada“ (zum Grillen) in die Berge. Oder wir sind zum Skaten gegangen, wobei ich das nicht hingekriegt habe. Ich war mehr am Boden, als auf den Rollen. Meine Töchter hatten aber viel Spaß dabei. Ich habe diese Zeit sehr genossen. Leider können sich meine Töchter nicht mehr daran erinnern, weil sie damals noch zu klein waren und ich nie viele Fotos gemacht habe. Die haben vielleicht Nachbarn und Freunde, die dabei waren. Das finde ich sehr schade, weil diese Erinnerungen mit mir dann weg sind.“
Gibt es Dinge, die Du getan hättest, wenn Du die Diagnose früher bekommen hättest?
„Ich weiß nicht, ich glaube, ich hätte Alexandria in Ägypten und Rom noch gerne gesehen. Ich fühle mich dieser römischen Zeit sehr verbunden und von diesen alten Gemäuern angezogen. Mit meinem Mann habe ich noch eine Reise nach Ägypten gemacht, als ich schon krank war, aber für Alexandria hat die Zeit nicht gereicht.“ Gregorio hat seine Frau von Anfang an unterstützt. Als sie geheiratet haben, etwa ein Jahr nach der Geburt des Sohnes, wussten sie schon von der Krankheit, aber es ging Sandra noch besser. Er kümmert sich um den gemeinsamen Sohn, hält Kontakt mit den Töchtern, macht ihr Mut und spricht mit ihr über die Dinge, die sie bewegen. Im Moment ist Sandra im Krankenhaus, weil sie Physiotherapie braucht. „Ich habe die Kraft verloren und kann nicht mehr laufen. Zu Hause bin ich alleine. Mein Mann muss ja arbeiten. Ich kann dann noch nicht einmal auf die Toilette. Deshalb ist es im Moment besser, wenn ich hier bin. Sie kümmern sich gut um mich. In die Sonne darf ich, wegen der Behandlung, im Moment auch nicht. Dabei denke ich oft an den Strand – an die Playa von El Médano zum Beispiel. Dort geht es flach ins Wasser. Du kannst ins Meer laufen, bis das Wasser deine Oberschenkel umspült. Manchmal kann ich mir das so richtig gut vorstellen und den Atlantik fast riechen. Dann denke ich: Na ja, tags- über geht es ja sowieso nicht, aber vielleicht nachts? Aber das sind natürlich nur Gedankenspiele. Vielleicht hätte ich die Zeit intensiver erlebt, wenn ich gewusst hätte, dass ich nicht mehr viel davon habe. Ich hätte mehr Momente geschaffen, an die man sich erinnert.“
Wie gehst Du persönlich mit dem Tod um? Bist Du religiös?
„Eigentlich nicht sehr. Ich glaube an die Wiedergeburt der Seele. Das macht es mir einfacher. Ich habe keine Angst davor zu sterben, nur vor dem ‚Wie‘ und vor vielleicht großen Schmerzen. Ich hoffe, dass mir die erspart bleiben. Ich habe Gregorio gesagt, dass ich verbrannt werden möchte und dass meine Urne in meiner Heimat Córdoba bestattet werden soll. Er hat mir das versprochen.“
Wie möchtest Du in Erinnerung bleiben?
Ich war immer eine aufgeschlossene Frau, stark, fröhlich und aktiv. Meine Lieblingsblumen sind weiße Rosen. Ich fände es schön, wenn sich meine Kinder bei weißen Rosen an mich erinnern. Oder wenn es bei wichtigen Familienfesten oder in einem Brautstrauß vielleicht einmal weiße Rosen gibt. Oder vielleicht haben sie mal eine Terrasse oder einen Garten, in dem diese Blumen blühen. Dann kann ich wenigstens symbolisch dabei sein. Ich möchte, dass meine Kinder, wenn sie sich an mich erinnern, eine lächelnde Mama vor sich sehen. Ja genau, lächelnd möchte ich in Erinnerung bleiben“, antwortet sie und lächelt ...
Von Sabine Virgin